Home
Nach oben

Sandburg

Irgendwann wurde behauptet, dass Jungen und Mädchen ihre männlichen bzw. weiblichen Eigenschaften nur durch ihre Umwelt bzw. Erfahrung sozusagen erlernen.

Ich behaupte: Blödsinn! Zumindest die typischen weiblichen Eigenschaften wie die Begeisterung für Blumen, nichttriviale Logik, spontanes Desinteresse an Technik und Schmutzfrüherkennung sind genetisch in der weiblichen Seele tief in Stein gemeißelt.

Ich habe seit nun fast 10 Jahren Gelegenheit, meiner Tochter beim Wachsen zuzusehen.

Mit anderthalb Jahren beobachtet sie mich, wie ich eine gebrochene ungewöhnliche Zollschraube aus Messing wieder zusammenlöte.
An und für sich ein interessantes Schauspiel für Kinderaugen: Eine zischelnde und züngelnde blaue Stichflamme aus dem Brenner, die rotglühende Schraube auf einem rostigen Eisenklotz, das schmelzende Lot und ein vor sich hin grummelnder Papa, weil die Schraube nicht auf Anhieb so will, wie er will.
Doch Jessica sieht es wohl etwas anders:
Sie erhebt ihr hohes Babystimmchen und verkündet erfreut:
"Muts, Papa Muts" (Muts = Schmutz)

Mit drei Jahren findet sie zu meinem großen Erstaunen eine spezielle Bodylotion auf Anhieb aus einem 10 m langen unübersichtlichen mit Kosmetika vollgestopften Wandregal im Supermarkt.
"Man merkt, dass du ein Mädchen bist." murmle ich mit einem leisen Seufzer. "Ja." erwidert sie in einem Tonfall, als ob das das Natürlichste auf der Welt sei, aus hunderten von verschiedenen Packungen einfach so die Richtige herauszufinden. Mit drei Jahren!

Mit sechs Jahren am Sandstrand schlage ich ihr vor, eine Sandburg zu bauen.
"Au ja! Wie baut man eine Sandburg?"
"Das zeige ich dir."
Ich stecke ein Quadrat mit etwa einem halben Meter Kantenlänge ab, hebe mit Jessica den Burggraben um das Quadrat aus, der Aushub wird zum Bau der Burgmauer genutzt.

Mir schwebt natürlich eine zünftige Raubritterburg mit Zugbrücke, Wehrtürmen, Pechnasen, Folterkammer und Söller, sowie einem sumpfigen Burggraben, der selbstredend mit Haifischen und Krokodilen garniert ist, vor.

Der Burg wird, wie es im Bausteine-Erden Sprachgebrauch so schön heißt, schnell hochgezogen und erreicht alsbald eine stattliche Größe. Als dann noch ein Fähnchen von einem Eisbecher den höchsten Turm ziert, erkläre ich den Bau für vollendet.

Ab hier nimmt das Drama seinen Lauf - empfindliche Männernaturen sollten jetzt schnell weiterblättern.

Jessica beginnt mit Blümchenpflanzungen auf der Burgmauer!
"Das sieht schön aus."
Gerechtfertigte Einwände meinerseits werden ignoriert. Ich kann nicht umhin, mir herannahende Feinde der Burg und ihre Reaktion beim Anblick der Blümchen vorzustellen.

Entsetzlich.

Anschließend reißt Jessica den hinteren Teil der Burgmauer ein, füllt mit dem Schutt den angrenzenden Teil des Burggrabens auf und glättet das dahinterliegende Areal außerhalb der Burg.
Dass die Feinde jetzt ungehindert in die Burg eindringen können, lässt Jessica unberührt.
"Das ist der Garten. Da können sich die Ritter Salat und Gemüse pflanzen."
Vor meinem geistigen Auge erscheinen Ritter in klirrender Rüstung, wie sie sich mühevoll bücken und irgendwelche Setzlinge in den Boden stecken.

Schrecklich.

Jetzt wird noch eine Nische in die verbliebene Mauer gebrochen.
"Da können sich die Ritter unterstellen, wenn es regnet."
Jessica kann sich dem Einwand, dass Blumen, Garten und Unterstellnische der Corporate Identity einer Raubritterburg abträglich sind, nicht anschließen.
Der Feldherr erreicht mit seinem feindlich gesonnenen Heer bei leichtem Nieselregen die Burg und erblickt...
Nein, nur nicht weiterdenken!

Der reinste Horror.

Allerdings, wenn ich mich recht entsinne, so ganz unbekannt ist mir diese Szene nicht. Als ich in sehr jungen Jahren mit ein paar Mädchen eine Burg am Strand baute, wollten auch sie Blümchen pflanzen...

Wir lernen zweierlei:

1. Diese fürchterlichen Eigenschaften sind definitiv erblich.
2. Spiele nie Raubritterburg mit einem Mädchen.