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Spinat

„Warum muss ich das Gemüse essen?“

Bereits zum dritten Mal innerhalb eines Mittagessens stellt mir Jessica diese Frage mit einem traurigen und leidenden Gesichtsausdruck. Bisher habe ich sinngemäß geantwortet, dass der Mensch im allgemeinen und Jessica im besonderen durch die ausschließliche Aufnahme von Nudeln und Schokolade mangelernährt ist und dass daher das Gemüse, weil es eben gesund ist, dem entgegenwirkt und daher gegessen werden muss.

Jessica und ihre Leidensgenossinnen kauen weiterhin lustlos auf dem Spinat herum. Die dazugehörigen Mütter machen auch bereits einen etwas ermüdeten Eindruck, denn sie werden mit ähnlichen Fragen bedrängt.

„Warum muss ich den Spinat essen?“ klagt  es erneut.

Ich ändere die Taktik.

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ frage ich mit einem verschwörerischen Blick auf Jessica und in die Runde.

Natürlich soll ich, denn Jessica ist acht Jahre alt und ein Mädchen, d.h. sie ist die personifizierte Neugier. Auch die anderen Kinder samt Mütter schauen nicht uninteressiert.

„Gemüse ist überhaupt nicht gesund.“

Den Kindern steht vor Erstaunen der Mund offen, die Mütter blicken mich entsetzt an. Viele Jahre mühevoller Erziehungsarbeit drohen in Sekundenschnelle unwiderruflich ins Nichts zu verrinnen. Kurz bevor die Mütter den naheliegenden Gedanken an Lynchjustiz nach Western-Art fassen können, rede ich weiter:

„Gemüse ist nur erfunden worden, um Kinder zu quälen.“

Die Mütter entspannen sich, die Kleinen feixen, Jessica deutet auf ihre Schläfe und vollführt dabei kreisende Bewegungen mit dem Zeigefinger.

Ich mime den Verständnislosen:

„Gute Eltern müssen gemein zu ihren Kindern sein. Das wisst ihr doch.“

„Jaja.“ Jessica hebt demonstrativ ihren Blick zur Zimmerdecke.

„Das ist gar nicht so einfach. Das muss man erst einmal richtig können.“

„Das kannst du ja schon ganz besonders gut, Papa.“

„Natürlich. Und weißt du auch, woher?“

Nach einer kurzen Pause siegt ihre Neugier auf den Unfug, den Papa wieder einmal produziert.

„Also woher?“

Sogar die Mütter schauen erwartungsvoll.

An die Kinder gewandt frage ich:

„Wisst ihr, was die Eltern machen, wenn ihr in der Schule seid?“

Großes Erstaunen.
So richtig überlegt hat es sich anscheinend noch niemand. „Die sind arbeiten...?“ kommt von irgendwo eine zögerndes Kinderstimmchen.

„Nein. Eben nicht. Die müssen auch in so etwas wie eine Schule. Und dort lernen sie, wie man gemein zu Kindern ist.“

„Papa!“

„Dochdoch. Und damit man eine gute Note bekommt, muss man gut gemein zu seinem Kind sein können. Dort lernt man zum Beispiel wie man den Fernseher genau dann ausmacht, wenn es gerade am spannensten ist, oder wie man die Kinder viel zu früh ins Bett schickt, oder wie man die Kinder zum Essen ruft, wenn sie gerade am schönsten spielen, oder eben auch, wie man Gemüse so kocht, dass es besonders scheußlich schmeckt.“

Die kleine Gesellschaft grübelt kauend und amüsiert. Sollte da etwas dran sein? Schließlich können das doch alle Eltern besonders gut.

„Neulich musste ich in dieser Schule Gemüse kochen,“ fahre ich fort, „und da habe ich leider nicht gut aufgepasst und es hat aus Versehen zu gut geschmeckt. Da musste ich dieses Gemüse wegschütten und zur Strafe noch mal neues kochen.“

„Und?“

„Das war dann Gottseidank scheußlich genug. Es ist gar nicht so einfach, Gemüse so zu kochen, dass es nicht schmeckt. Da muss man genau wissen, von welchem Gewürz man wieviel reintun muss.“

„Das ist doch toll, Papa. Jetzt kannst du in der Schule erzählen, dass der Spinat sogar so schlecht war, dass ihn deine Jessica überhaupt nicht essen konnte. Dann bekommst du eine gute Note.“

„Wahrscheinlich doch nicht. Du hast ja auch nicht aufgepasst und inzwischen aus Versehen fast alles aufgegessen.“

„Oh.“

„Jetzt muss ich nochmal Spinat für dich kochen.“

„Nein danke. Nicht nötig.“

Sprichts, isst die letzte Gabel voll und rauscht samt der übrigen Rasselbande hinaus.

So komme ich natürlich nicht zu guten Zensuren.